Kommentar |
Ein großer Unterschied zwischen frühneuzeitlichen Lebenswelten und solchen der Gegenwart liegt im Zugang zu und im Umgang mit den Dingen, welche den Alltag ermöglichen, erleichtern oder verschönern. Besitzt ein Mensch in Deutschland heute im Durchschnitt um die 10.000 Dinge, fand sich in einem Bauern- oder Handwerkerhaushalt des 16. Jahrhunderts nur ein Bruchteil dieser Menge. Darauf hinzuweisen, dass es damals noch keine Stereoanlagen, Handys oder Waschmaschinen gab, wäre ebenso zutreffend wie relativ banal. Doch auch bei jenen Gütern, die es damals wie heute gab, stellten sich Erwerb und Nutzung sehr anders dar, als wir es gewohnt sind. Ein Mantel, zwei Hemden, zwei Hosen, drei Unterhosen und drei Paar Strümpfe mochten alles sein, was ein Mann vor 400 Jahren an Kleidung besaß. Das Mobiliar beschränkte sich in vielen Haushalten auf ein Bett, einen Tisch, eine kleines Zahl von Stühlen oder Schemeln und einige Truhen zur Aufbewahrung der wenigen Habseligkeiten. Das sah bei Adligen oder reichen Kaufleuten schon um 1500 anders aus; im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts wuchs die Menge der verfügbaren und erschwinglichen Konsumgüter, so dass auch materiell abgesicherte Bauern oder einigermaßen gutverdienende Handwerker sich mit einer immer größeren Zahl von ihnen umgeben konnten. Es wäre falsch, die Frühe Neuzeit als eine statische Epoche des Mangels zu charakterisieren. Sie brachte vielmehr eine Konsumrevolution.
Gleichwohl soll in diesem Seminar der Fokus auf dem liegen, was von heute betrachtet die Alterität der Frühen Neuzeit ausmacht: Auf dem Aufwand, den es erforderte, ein Paar Schuhe, einen Schrank oder einen Spiegel herzustellen, und den Konsequenzen, die sich daraus für die Konsument*innen ergaben; auf der völlig anderen Art der Warendistribution in einer Zeit, in der es noch keine Supermärkte, keine Einkaufszentren und keinen Online-Handel gab; und auf dem Umgang mit den wenigen Besitztümern: Schuhe, die man immer wieder flicken ließ; Kleidungsstücke, die man ebenfalls wieder und wieder ausbesserte, um sie am Lebensende möglicherweise zu vererben; Werkzeuge, die man theoretisch käuflich erwerben konnte, aber doch selbst anfertigte, weil man stundenlang in die nächste Stadt hätte laufen oder fahren müssen, um sie zu kaufen. Die große Frage im Hintergrund des Seminars ist: Wie hat diese für uns fremde Konsum- und Warenwelt das Verhalten und Denken der Menschen geprägt? In den Referaten und Hausarbeiten können alle gerade skizzierten Aspekte behandelt werden: Wie wurden Alltagsgegenstände wie Möbel, Werkzeuge oder Kleidungsstücke hergestellt? Wo und von wem konnten die Menschen welche Güter zu welchen Preisen wann erwerben? Wie gingen Menschen mit dem einmal Erworbenen um? Und welches Verhältnis hatten sie zu diesen Dingen? |
Literatur |
Brewer, John; Porter, Roy (Hrsg.): Consumption and the World of Goods. London; New York 1993.
Cox, Nancy: The Complete Tradesman. A Study of Retailing, 1550-1820. Aldershot 2000.
Duits, Rembrandt (Hrsg.): The Art of the Poor. The Aesthetic Material Culture of the Lower Classes in Europe, 1300-1600. London [u.a.] 2020.
Fontaine, Laurence (Hrsg.): Alternative Exchanges. Second-Hand Circulation from the Sixteenth Century to the Present. New York; Oxford 2008.
Hohti Erichsen, Paula: Artisans, Objects and Everyday Life in Renaissance Italy. The Material Culture of the Middling Class. Amsterdam 2020.
Kromas, Angelika: Das Warenangebot des Mühldorfer Kramers Franciscus Schmidt. Zur Handels- und Konsumgeschichte des 17. Jahrhunderts. Baden-Baden 2022.
Roche, Daniel: The Culture of Clothing. Dress and Fashion in the ‚Ancien Régime‘. Cambridge 1994.
Schmidt-Funke, Julia (Hrsg.): Materielle Kultur und Konsum in der Frühen Neuzeit. Wien; Köln; Weimar 2019.
Stöger, Georg: Sekundäre Märkte? Zum Wiener und Salzburger Gebrauchtwarenhandel im 17. und 18. Jahrhundert. Wien 2011.
Styles, John: The Dress of the People. Everyday Fashion in Eighteenth-Century England. New Haven 2007.
Trentmann, Frank: Herrschaft der Dinge. Die Geschichte des Konsums vom 15. Jahrhundert bis heute. München 2017.
Welch, Evelyn: Shopping in the Renaissance. Consumer Culture in Italy, 1400-1600. New Haven 2005.
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