Kommentar |
Schauen wir uns nur die letzten Nobelpreisträger aus Lateinamerika an: die Guatemaltekin Rigoberta Menchú (Friedensnobelpreis 1992) schreibt über den Genozid an den Maya-Völkern in den Bürgerkriegen der 1970er und 1980er Jahre – und wir können weder Form noch Stoff ihres Testimonios begreifen, wenn wir nicht Grundkenntnisse der Maya-Mythen aus vorkolumbischer Zeit haben. Gleiches gilt für Cien años de soledad, den Roman von Gabriel García Márquez (Literaturnobelpreis 1982), dessen zyklische Zeitstruktur u.a. auf indigene Vorbilder verweist. Kurz gesagt: Nur mit umfassendem kulturhistorischem Hintergrundwissen ist die lateinamerikanische Literatur der Gegenwart wirklich zu verstehen. Daher setzt die Vorlesung nicht mit der Entstehung der Nationalliteraturen im Umfeld der Unabhängigkeitsbewegung des 19. Jahrhunderts ein, auch nicht mit den Schriften des sogenannten Entdeckers (Kolumbus) oder der der Eroberer (Cortés, Díaz del Castillo etc.), sondern mit den Überlieferungen der im wesentlichen oralen Kulturen der Azteken, Maya und Inka. Wobei vor allem der Frage nachzugehen sein wird, wie wir Europäer zu dem Wissen gelangt sind, das wir über jene Kulturen haben, wie Wissen in Lateinamerika zirkuliert und wo es generiert wird. Anschließend werden ausgewählte Autoren und Schlüsselwerke des 16. bis 18. Jahrhunderts vorgestellt, eingebettet in eine Sozialgeschichte der Kolonien und der schwierigen Herausbildung ihres literarischen Feldes. Neben den kanonischen Primärtexten werden auch die theoretischen Grundlagen der heutigen Lateinamerikanistik vermittelt (postcolonial studies, transarea studies) sowie Textsorten, die wie Landkarten und Atlanten erst in jüngster Zeit Gegenstand kulturwissenschaftlicher der Forschung geworden sind. Am chronologischen Ende der Vorlesung steht das Werk eines Deutschen, der in vielen Ländern Südamerikas wie ein Nationalheiliger verehrt wird: Alexander von Humboldt. „Vom Popol Vuh bis Alexander von Humboldt“ – Lateinamerika schreibt offenbar nicht nur lateinamerikanische Literaturhinweise: Alcina Franch, José: Las culturas precolombianas de América. Madrid 2000. Berg, Walter Bruno: Lateinamerika. Literatur – Geschichte – Kultur. Eine Einführung. Darmstadt 1995. Borchmeyer, Florian: Die Ordnung des Unbekannten. Von der Erfindung der neuen Welt. 2009. Gewecke, Frauke: Wie die neue Welt in die alte kam. Stuttgart 1986. Scharlau, Birgit (Hg.): Lateinamerika denken. Kulturtheoretische Grenzgänge zwischen Moderne und Postmoderne. Tübingen 1994. Swanson, Philip (Hg.): The Companion to Latin American Studies. London 2003. |