Kommentar |
Die Frage, wie eine Gesellschaft diejenigen unter ihren Angehörigen integrieren kann, die als ‚behindert‘ gelten, weil sie ‚anders‘ aussehen als die Mehrheit und weil sie bestimmte Verhaltenserwartungen (vermeintlich) nicht erfüllen können, ist heute in der Öffentlichkeit in vielfältiger Weise präsent: das Spektrum reicht von den Anzeigenkampagnen der „Aktion Mensch“ und den aktuellen Bemühungen um einen dem Prinzip der Inklusion verpflichteten Schulunterricht bis hin zur Debatte über die Pränataldiagnostik. Politik und Gesetzgebung thematisieren den Umgang mit ‚behinderten‘ Menschen regelmäßig. Wie stellten sich im Vergleich zu dieser aktuellen Situation Diskurse über und Umgangsweisen mit Behinderung in der westeuropäischen Geschichte zwischen dem Spätmittelalter und der Epoche der Industrialisierung dar? Die Dis/ability History hat in den letzten Jahren einen erheblichen Aufschwung erfahren, womit es überhaupt erst möglich geworden ist, auf diese Fragen seriöse Antworten zu geben. Zugleich hat diese junge Fachrichtung aber auch eine neue und grundlegende Frage aufgeworfen: Gab es im Mittelalter und der Frühen Neuzeit überhaupt ‚behinderte‘ Menschen? Diese Frage erscheint paradox, denn natürlich hat es in allen historischen Gesellschaften Menschen gegeben, die beispielsweise nicht sehen oder nicht laufen konnten. Doch waren diese ‚behindert‘, wenn sie in Gesellschaften lebten, die diese Bewertungskategorie nicht kannten? Und ist diese Kategorie nicht ein Produkt von Modernisierungsprozessen, von Aufklärung und Industrialisierung? Das Hauptseminar erkundet die Geschichte ‚behinderter‘ Menschen in diesem Spannungsfeld zwischen medizinisch diagnostizierbaren körperlichen Beeinträchtigungen, die Konstanten menschlicher Existenz darstellen, und sozio-kulturellen Konstruktionen, die sich als historisch wandelbar erweisen. In den Blick genommen werden Lebenswelten wie die Hospitäler, die ersten Schulen für blinde und gehörlose Menschen und die Freakshows. Daneben wird aber auch die Auseinandersetzung mit theoretischen Perspektiven der Disability History stehen. Die Bereitschaft und Fähigkeit, englischsprachige Fachtexte zu lesen, wird vorausgesetzt.
Einschreibezeitraum für Studierende ab dem 2. Semester: 01.08.2022, 12:00 Uhr bis 26.08.2022, 16:00 Uhr Loszeitpunkt: 26.08.2022, 16:10 Uhr |
Literatur |
Bösl, Elsbeth; Klein, Anne; Waldschmidt, Anne (Hrsg.). Disability History. Konstruktionen von Behinderung in der Geschichte; eine Einführung. Bielefeld 2010. Dederich, Markus: Körper, Kultur und Behinderung. Eine Einführung in die Disability Studies. 2. Aufl. Bielefeld 2012. Lingelbach, Gabriele; Waldschmidt, Anne (Hrsg.): Kontinuitäten, Zäsuren, Brüche? Lebenslagen von Menschen mit Behinderungen in der deutschen Zeitgeschichte. Frankfurt a.M.; New York 2016. Metzler, Irina: Disability in Medieval Europe. Thinking about Physical Impairment during the High Middle Ages, c. 1100-1400. London [u.a.] 2006. Nolte, Cordula [u.a.] (Hrsg.): Dis/ability History der Vormoderne. Ein Handbuch. Affalterbach 2017. Schmidt, Patrick: Bettler, Kriegsinvaliden, Körpersensationen. Beeinträchtigte Menschen in printmedialen Diskursen des 17. und 18. Jahrhunderts. Frankfurt a.M.; New York 2017. Stiker, Henri-Jacques: A History of Disability. Ann Arbor, Mi., 1999.
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